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2012 war nicht nur das Jahr, in dem der Pop-Sprössling Dubstep seine Seele endgültig an den Mainstream verkaufte und zum obersten Stilmittel für die vom Autotune besessenen Chart-Narren wurde, 2012 war auch das Jahr, das Drum & Bass zu neuer und nie so recht für möglich gehaltener Popularität verhalf, die sich in Chart-Platzierungen und Radiogedudel äußerte. Nach so lange Zeit mit gelebter Genre-Tradition wusste man dann auch gar nicht, ob man das nun gut finden oder verteufeln sollte, wenn DJ Fresh in der Heavy-Rotation hierzulande ansässiger Radio-Stationen einem die Ohren bluten ließ. Doch hat Drum & Bass das tatsächlich ganz alleine geschafft oder wurde ihm von einem wesentlich jüngeren und irgendwie doch artverwandten Genre unter die Arme gegriffen? Und wer zur Hölle ist eigentlich dieser Alex Clare?

Klar, wenn sich subkulturelle Stilmittel in den Mainstream und die Charts einschleichen, ist das immer nur die Spitze des Eisbergs, da unter Wasser die fleißigen Arbeiter der Subkultur stetig und immer wieder neue Wege suchen, um sich von dem Spektakel der kommerziellen Ausschlachtung über dem Nullpunkt abzugrenzen. Deshalb führt eine hohe Reputation im Mainstream meist zu einer sehr vitalen und vielschichtigen Subkultur, die immer wieder neue Stile hervorbringt und neue Referenzen auf den Plan wirft. Die Popularität des Drum & Bass in 2012 ist also erstmal gar nichts schlechtes, um diesem eventuell aufkommenden Missverständnis vorzubeugen. Denn Drum & Bass kennt dieses Prozedere ohnehin nicht erst seit gestern, sondern wird schon längst als Background-Schatztruhe von Fernsehen, Computerspielen und Werbung geschätzt. So ein liquides Amenbreak-Geplänkel überrascht schließlich mit enormer Background-Funktionalität und ein harter Neuro-Sound sorgt bei nahezu jedem „Baller“- oder Rennspiel für das richtige Game-Feeling.

Doch auch abseits dieses eher gesichtslosen Musikbusiness fühlt sich Drum & Bass in den Pop-Sphären der britischen Charts gar nicht so unwohl und konnte den ein oder anderen Star generieren. So gelang GOLDIE bereits 1995 mit seinem archetypischen „Timeless“-Longplayer der Sprung auf Platz sieben der britischen Album-Charts und erreichte sogar den Goldstatus. Nur zwei Jahre später war es Roni Size, der diesem Erfolg dicht auf den Fersen war und mit seinem Debütalbum „New Forms“ auf Platz acht gelangen konnte. Sein zweiter Longplayer „In The Mode“ schaffte es im Jahre 2000 immerhin noch auf die 15. Und auch in den Single-Charts konnte sich der Mann hinter Full Cycle ganze 18 mal in den Top 100 niederlassen. Darunter „Brown Paper Bag“ und „Out Of Breath“. Die beiden Jungle-Veteranen sollten keine Ausnahme bleiben. Denn Künstler wie Shy FX, DJ Zinc, High Contrast oder Pendulum ließen sich regelmäßig für einige Wochen in den britischen Charts nieder. Im Vereinigten Königreich lässt sich also offensichtlich mit etwas Glück richtig Geld im Drum & Bass verdienen und es spielt eben nicht nur die Subkultur-Geige, sondern haut auch im Mainstream ab und an ordentlich in die Tasten. Und doch scheint der Breakbeat-Hase in 2012 noch mal ganz andere Haken geschlagen zu haben, so dass selbst das europäische Festland Drum & Bass nicht mehr nur vereinzelt auf dem Schirm und in der mp3-Sammlung hat.

Pendulum

Wie so oft in diesen Tagen scheint der Aufstieg des Dubstep an diesem Phänomen nicht ganz unbeteiligt zu sein. Denn während sich unsereins Mitte und Ende der 00er Jahre eher in den neuen Deepness-Sprösslingen aus den Federn von dBridge, Instra:mental, Alix Perez, Icicle oder Rockwell labten, fanden sich andere schnell in der Intensivierungsmaschine des Dubstep wieder und zeigten was bei 140BPM so alles möglich ist. So z.B. „Eastern Jam“ von Chase & Status aus 2008. Mit ordentlich Platz zwischen Bass- und Snare-Drum konnten sich die produktionstechnisch hoch begabten Saul Milton und Will Kennard so richtig austoben und produzierten ein Brett, das allen Freunden der tiefen Frequenzen die Münder nicht nur zum Druckausgleich offen stehen ließ. Und als Flip des Klassikers „Pieces“ ft. Plan B wurde der mächtige Track zu einem gern gesehen Gast auf Drum & Bass Partys. Drei Jahre später kletterte das zweite Album von Chase & Status „No More Idols“ auf Platz zwei der britischen Album-Charts und die Vermutung liegt nahe, dass „Eastern Jam“ nicht ganz unbeteiligt daran war, obwohl es auf dem Longplayer gar nicht erschienen ist.

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Der Erfolg von „No More Idols“ war sicherlich keine Überraschung. Saul Milton und Will Kennard wurden für das Album nicht nur unter die Fittiche von Mercury Records genommen, das als Tochterunternehmen von Universal läuft und damit einem der größten Major-Labels dieses Planeten gehört, sondern es stand ihnen auch Pendulum Manager Joe Oakley zur Seite. Dadurch waren nicht nur die zahlreichen Kollaborationen mit Genre fremden Major-Künstlern wie Dizzee Rascal, Liam Bailey oder den White Lies möglich, es stand auch eine gewaltige Distributionsmaschinerie bereit, die Abseits von jeglichem subkulturellen Charme operierte. Doch viel entscheidender ist, dass Mercury eben keinen reinen Drum & Bass Act signte. Über die Hälfte der Tracks von „No More Idols“ bewegen sich Abseits der 175BPM im gehypten Dubstep-Bereich, wofür „Eastern Jam“ sicherlich ein erster Anstoss war und damit das Major-Signing vorantrieb. Und wieder lässt es sich nur vermuten, aber dass ein reines Drum & Bass-Album sich bis fast an die Spitze der Charts hätte kämpfen können, scheint trotz Chart-Vergangenheit eher unwahrscheinlich. Schließlich generierte Dubstep zu dieser Zeit von Amerika aus seine ersten waschechten Superstars, dass einem Schlecht wurde, was auch die eigensinnigen Briten nicht ganz kalt lassen konnte. Demzufolge scheint Drum & Bass auf dem Rücken des Dubstep reitend an die vordere Front der Charts gepusht worden zu sein und hat wechselwirkend die 140BPM bei ihrem Siegeszug ebenfalls unterstützt, da im Falle „No More Idols“ zwei alles andere als kleine Käuferschichten im iTunes-Store und altmodischen CD-Regal zugriffen. Wer also viel Dubstep hörte kam an Drum & Bass nicht vorbei und umgekehrt.

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Bei DJ Fresh und seinem im Oktober diesen Jahres veröffentlichten Album „Nextlevelism“ verhält es sich ganz ähnlich. Allerdings sorgte die etwas andere Distributionspolitik bisher für einen schwachen Platz 14 in den britischen Charts. Aber Fresh war offensichtlich ohnehin auf etwas ganz anderes aus. Bereits im Juni 2011 erschien „Louder“ ft. Sian Evans, die erste Single des Longplayers und schoss ohne Umwege auf Platz eins der Single-Charts in Großbritannien. Cheesy glitzernde Synth-Lines und ein catchy Gesang, liegen über einem schleppenden Dubstep-Beat, der eigentlich gar nichts, aber eben für das gewünschte und sich gut verkaufende Dubstep-Logo Sorge trage kann. So funktioniert es eben, wenn subkulturelle Stilmittel vom großen Wanst des Pop verschlungen werden. Doch Fresh baute noch einen kleinen Genie-Streich mit in den Song ein. In den letzten 20 Sekunden des Stückes wird die ganze Schose auf treibende 174BPM angehoben und die Besucher der Großraum-Discotheken können noch einmal so richtig zu Drum & Bass abzappeln. Unter musikalischen Gesichtspunkten ergibt das natürlich eher wenig Sinn. Doch im Hinblick auf die folgende Single, die ein reines Drum & Bass-Stück werden sollte, scheint doch mehr hinter diesem Stil-Switch zu stehen. Auf diese Weise konnten die ganzen Dubstep-Hype-Infizierten sich schonmal auf die kommende Single – ohne zu wissen, dass sie kommen würde – einstimmen und feststellen, dass das Tanzen auch bei 35BPM mehr auf dem Tacho durchaus Spaß machen kann. „Hot Right Now“ ft. Rita Ora, hier hatte Jay-Z seine Finger mit im Spiel, kam im Februar diesen Jahre auf den Markt und stürmte genauso wie ihr Vorgänger direkt auf die Eins der britischen Single-Charts und sie sollte die erste im Drum & Bass sein, der das gelang. Erneut also – so scheint es doch – wurde Drum & Bass vom Dubstep an die Spitze der Charts getrieben und DJ Fresh kann auf einen offenbar großartigen Business-Plan herab blicken, der ihm eine Menge Geld einbringen und einen Platz im Pop-Olymp sichern konnte. Und so durften dann auch wir Deutschen und viele andere Europäer – wahrscheinlich die ganze Welt – den Song gefühlte 18 mal pro Tag im Radio hören, wenn man das denn eingeschaltet hatte, und chancenlos kauften ihn die Mitbürger auf Platz 28 der Single-Charts.

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Ja, und dann gab es da noch diesen Alex Clare, den eigentlich kein Mensch kannte, jedoch jeder seine Single „Too Close“ kaufte, obwohl die schon vor einem Jahr auf den Markt kam. Sie war Teil seines Debütalbums „The Lateness Of The Hour“, das mit Unterstützung von Diplo produziert wurde. Als Pop-Beilage in einem Microsoft Werbespot wurde die Single dann 2012 spontan doch noch bekannt und zusammen mit dem ach so souligen Gesang chartete der brutale Dubstep-Song doch noch auf Platz eins der in diesem Fall deutschen Single-Charts. Kurz darauf erschien dann auch noch die zweite Single „Treading Water“ aus der Versenkung, die genauso wie bei DJ Fresh ein reines Drum & Bass Stück war, dem der Pop-Mantel umgehängt wurde. Hier wollten sich dann die Engländer aber doch nicht die Breakbeat-Butter vom Brot nehmen lassen und der Song floppte. In Deutschland ging es immerhin bis auf Platz 59, was hierzulande schon als enormer Erfolg gewertet werden kann.

global

Lange Rede, kurzer Sinn: Drum & Bass ist mitten im Mainstream angekommen. Und das auch über die Küsten der popkulturellen Insel Großbritannien hinaus. Ob das wieder eine Phase ist oder ob sich Drum & Bass auch in Zukunft in der Heavy-Rotation ansässiger Radiostationen wiederfinden lässt, bleibt abzuwarten. Für den Moment lässt sich dennoch konstatieren, dass Dubstep die Verkaufszahlen des Drum & Bass enorm in die Höhe getrieben hat und gewissermaßen für den ersten Nummer eins Hit in den britischen Charts sorgen konnte. Sicherlich wurde sich hier ganz romantisch und Hand in Hand gegenseitig befruchtet, profitiert hat jedoch in erster Linie der Drum & Bass. So scheint es zumindest.

Text: Christian Kinkel

Dieser Artikel wurde in der Ausgabe 17  (Januar 2013) des Headliner Magazins veröffentlicht und erscheint mit freundlicher Genehmigung.